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Der Gasthof Rebstock, welcher heute nicht mehr steht, beherbergte während einiger Tage die Sowjetmission. Von der Emmishofer Bevölkerung wurden die Gäste nicht gerade freundlich begrüsst und die russische Delegation verhielt sich nicht sehr diplomatisch. (Bild: zvg)
Weite Teile Europas waren gegen Ende des 1. Weltkrieges von sozialen Unruhen geprägt. Die Arbeiterschaft zeigte kein Verständnis, die bis anhin herrschenden Zustände weiterhin zu ertragen. Auch in der Schweiz, obwohl vom Kriegsgeschehen verschont, machte sich steigender Unmut bemerkbar. Grosse Not, kriegsbedingte Teuerung und soziale Ungerechtigkeiten boten den Nährboden der Unzufriedenheit.
Zunehmend gewannen in der Schweiz radikale und revolutionäre Ideen, genährt durch den Geist der Oktoberrevolution von 1917 in Russland, an Boden. Die Staatsgewalt jedoch, beherrscht durch nichtsozialistische Kräfte, blieb in Aberkennung der völlig ungenügenden sozialen Zustände ihrem Weg treu, was schliesslich zur Katastrophe des Generalstreiks vom November 1918 führte.
Verdachtsmomente gegen die Sowjetmission
Der Arbeitsausstand nahm bedrohliche Formen an, vor allem in den grossen Schweizer Städten legte die Arbeiterschaft ihre Tätigkeit nieder. Auch der Bahnverkehr des Landes kam weitgehend zum Erliegen, die nichtsozialistischen Zeitungsdruckereien sowie die öffentlichen Dienste standen still. Die Lage entwickelte sich landesweit recht bedenklich. Um die öffentliche Ordnung so weit es ging aufrechtzuhalten, bot der Bundesrat zur Not sogar Truppen auf, was jedoch eine markante Verschärfung der politischen Gegensätze nach sich zog. Der Landesstreik verursachte auch eine aussenpolitische Episode.
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Heute ein Hort, damals kurzzeitig der Unterschlupf der Sowjetmission: Das ehemalige Schulhaus Weinburg. (Bild: zvg)
Gemäss der Ansicht der obersten Landesbehörde bestanden begründete Verdachtsmomente ob dem Mitwirken der seit kurzem in Bern tätigen Sowjetvertretung bei den gegenwärtigen revolutionären Umtrieben. Gemäss Bundesratsbeschluss erfolgte daher für die Mitglieder der Sowjetmission der Entzug des diplomatischen Status, verbunden mit dem Entscheid des Landesverweises.
Begleitet von einem Zug Infanterie traten am Nachmittag des 12. Novembers 33 Personen der russischen Vertretung die Reise ab Bern nach Kreuzlingen an. Gemäss der Anordnung sollte die Gesellschaft von hier aus unverzüglich über die Grenze nach Konstanz abgeschoben werden. Der Bahnverkehr war jedoch wegen des Landesstreiks lahmgelegt und so erfolgte die Reise, aus Gründen der Sicherheit alle grösseren Ortschaften meidend, auf Nebenstrassen. Der Transport, bestehend aus neun Personenautos nebst zwei Camions für das Gepäck, traf nach einer durch etliche Pannen begleiteten Fahrt nach 22 Stunden am 13. November in Emmishofen ein.
Die Abschiebung verzögert sich
Gemäss der Ansicht der Bundesbehörde sollte nun unverzüglich das Abschieben über die Grenze erfolgen. Die beiden begleitenden Offiziere, zusammen mit sechs Mitgliedern der Sowjetmission, trafen mit dieser Absicht beauftragt per Auto am Hauptzoll ein, um mit dem Kommandanten des Dienst leistenden Neuenburger Füsilier-Bataillons 18 Verbindung aufzunehmen. Nach kurzen Verhandlungen mit den deutschen Behörden wurde aber deren Weigerung, die Ausgewiesenen über die Grenze reisen zu lassen, offensichtlich. Vorgegebener Mangel von Rollmaterial und die derzeitigen durch das Kriegsende herrschenden Zustände in Konstanz verunmöglichten angeblich die Übernahme.
Hitzköpfe auf beiden Seiten
Nun galt es, die Leute sicher unterzubringen. Bewacht von der Füsilierkompanie IV/18 wurde ihnen der Gasthof Rebstock in Emmishofen zur Verpflegung sowie zum Aufenthalt zugewiesen. Allem Anschein nach erlebten die fremden Gäste keinen sehr willkommenen Empfang. Teilweise nur mit Mühe vermochten die begleitenden Soldaten die Fremden vor den Hitzköpfen aus der Bevölkerung fern zu halten.
In Anbetracht der Ungewissheit des vorgesehenen Grenzübertritts kam dem zuständigen Militärkommando folglich die Aufgabe zu, nach geeigneten Nachtlagern Ausschau zu halten. Alle Gasthöfe in der Umgebung dienten zumeist als Truppenunterkünfte und zudem zeigten die Besitzer wenig Interesse, die Angehörigen der Sowjetmission zu beherbergen. Schliesslich konnten im Rebstock für zehn Personen Schlafplätze gefunden werden, während sich die restlichen 23 Personen im Weinburgschulhaus mit einem Strohlager begnügen mussten.
Gerade einfach scheinen sich die Sowjets während ihrem erzwungenen Aufenthalt nicht benommen zu haben. Das Verlangen nach Telegramm-Übermittlungen, die Abklärung von Personalien und vor allem das Führen von fast endlosen und zwecklos scheinenden Gesprächen mit den zuständigen Offizieren sollte dem Anschein nach die Abreise hinauszögern und erschweren.
Das inzwischen aus Berlin bei den Grenzbehörden eingetroffene Telegramm sah die Übernahme der Abzuschiebenden erst auf den 15. November vor, da ein Beamter des Auswärtigen Amtes die Mission in Konstanz in Empfang nehmen musste. Ungeachtet der Gesprächsversuche einiger redegewandter Herren setzte der diensthabende Offizier am Abreisetag frühmorgens zur Eile an. Umsonst forderten die Mitglieder der Mission zusätzliche Garantien der deutschen Behörden für die Reise durch Deutschland.
Schlussendlich, nach der Zusage der kontrollfreien Überführung des Gepäcks über die Grenze, bestiegen die Mitglieder der sowjetischen Gesandtschaft, wenn auch widerwillig, die beim Rebstock wartenden Automobile.
Abgeriegelter Bahnhof
Im militärisch abgeriegelten Bahnhof Emmishofen-Kreuzlingen (heute Hauptbahnhof Kreuzlingen) stand hinter der Dampflokomotive ein Personenwagen, je zur Hälfte aus 2. und 3. Klasse bestehend, zur Aufnahme der Ausgewiesenen bereit. Vor dem Abschliessen des Wagens vollzog ein Offizier letztmals die zahlenmässige Kontrolle der Eingestiegenen. Ohne Abschiedsgruss begleitete das Zischen der Lokomotive die Gruppe auf dem letzten Stück der Schweiz.
Mit dem Eintreffen der Ankunftsmeldung des Zuges in Konstanz durften die Schweizer Behörden die Angelegenheit als beendet betrachten, womit Emmishofen, das für einige Tage im Rampenlicht der schweizerischen Aussenpolitik stand, wieder zum gewohnten Alltag zurück fand.
Geschrieben von Georg Strasser